Wer ist die geheimnisvoll Fremde, die einmal im Jahr das grüne Zimmer besucht? Und warum brennen zeitgleich immer wieder Scheunen ab?
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MenschenTranskript
00:00Wie finden Sie die Adresse?
00:25Am Güterbahnhof 9b.
00:28Nicht sehr berauschend, was?
00:30Ja, so lautet ab heute meine Adresse.
00:33Nicht mehr Best Western Hotel, 10. Stock, Apartment 1024,
00:37bei klarem Wetter mit Fernsicht bis auf die Rhön,
00:40oder das, was ich anfangs für die Rhön gehalten habe.
00:43Ließ ich nicht mehr umgehen, der Umzug,
00:46die Abteilung hätte mir das Übel genommen,
00:48so quasi nur auf dem Sprung in Rotenburg an der Fulda,
00:51obwohl Schmoll, dem ich seinen Aufstieg vermasselt habe,
00:54bestimmt froh darüber gewesen wäre,
00:56dass ich nur auf einen Sprung hier geblieben wäre.
00:59Den letzten Anstoß gab Linda, die seit mindestens einem Jahr
01:02ihren gesamten Postbezirk nach einer passenden Wohnung
01:05für mich abgegrast hatte und keine Ruhe gab.
01:08Diese Bleibe hier fand sie aus unerfindlichen Gründen
01:11genau das Angemessene für mich, und ich gab mich geschlagen.
01:15Die Wohnung, teilmöbliert, aber viel zu groß für mich,
01:18befindet sich im 3. Stockwerk einer Gründerzeitvilla
01:21aus dem 19. Jahrhundert,
01:23angeblich der Stammsitz einer Knopf- und Kammfabrik,
01:26die derzeitigen Besitzer des Hauses
01:28eine Erbengemeinschaft irgendwo im Ausland.
01:31Den Mietvertrag habe ich bei einem Makler unterschrieben.
01:34Was die weiteren Bewohner des Hauses betrifft,
01:37so habe ich noch keinen angetroffen, sollen Pensionäre sein,
01:40Scheintote, wie Linda sie nannte, jedenfalls ruhige Leute.
01:44Geradezu unheimlich, die Ruhe hier.
01:47Es ist jetzt 10 Uhr am Abend.
01:50Wahrscheinlich sind alle im Haus schon zu Bett.
01:53Ich stehe am Fenster und sehe zum Bahnhof,
01:56der von gelblichen Natriumlampen angestrahlt wird.
02:02Das grüne Zimmer von Friedemann Schulz.
02:10Es ist der letzte Zug, der für heute Rotenburg anläuft.
02:13Ein Schienenbus von einer Privatbahn.
02:16Normale Züge fahren hier nicht mehr.
02:19Der einzige Fahrgast, der aussteigt,
02:21ist eine Frau, Alter schwer zu bestimmen.
02:24Sie trägt eine Art Poncho, auf dem Kopf ein rotes Hütchen,
02:28an der Hand eine kleine Reisetasche, die sie auf dem Boden abstellt.
02:36Als der Zug weg ist,
02:38steht die Frau immer noch auf dem leeren Bahnhofsvorplatz.
02:41Sie sieht zu mir hoch, jedenfalls in meine Richtung.
02:44Ich mache das Licht aus.
02:46Als ich wieder an das Fenster trete, steht sie noch da
02:49und sieht immer noch hoch zu mir.
02:51Dann greift sie nach ihrer Tasche und geht weg.
02:55Ich gehe in die Küche, trinke ein Glas Wasser,
02:58lege mich auf mein Bett und horche,
03:00ob das Haus irgendwelche Geräusche von sich gibt.
03:03Totenstille.
03:05Vermisse das Best Western.
03:08Morgen, Herr Nebe.
03:10Morgen. Sind die anderen schon da?
03:12Der Schmoll telefoniert. Und Panzer hat Magen-Darm.
03:15Er sagt, er soll ja zu Hause bleiben.
03:17Bringt ja auch nichts an hier.
03:19Wie man es nimmt, Herr Nebe,
03:21hatte gerade ein Anruf von der Feuerwehr.
03:23Da ist heute Nacht eine Scheune abgebrannt.
03:25Und?
03:26Nichts weiter. Aber einer muss hin.
03:28Sie wissen ja, wollte Panzer schicken, aber...
03:30Ja, lieber einer von uns beiden, oder wie sehe ich das?
03:33Bitte, Sie sind der Vorgesetzte. Sie machen die Ansage.
03:36Alles gut, Herr Schmoll.
03:38Falls Sie gerade mit dringenden Dingen beschäftigt sind,
03:41übernehme ich Sie natürlich. Die Scheune?
03:43Die Scheune war im Verhältnis immer noch ziemlich frostig.
03:46Manchmal nahm es lächerliche Form an.
03:51Ich hatte mich ein bisschen verfahren
03:53und traf ungefähr 30 Minuten nach unserem kleinen Geplänkel
03:56bei der abgebrannten Scheune ein.
03:58Sie werden sich wundern, was die Abteilung Kapitalverbrechen
04:01mit einer Scheune zu tun hat.
04:03Aber egal, ob Scheune oder Großbrand,
04:05wir müssen uns das ansehen, so lauten die Vorschriften.
04:08Ein verkohlter Haufen lag mitten auf einer Wiese
04:11und ein kleines Feuerwehrauto stand daneben.
04:16Nichts von Interesse für Sie dabei, Herr Kommissar.
04:19Sauber abgefackelt, die Laube.
04:21Warmer Abbruch?
04:23Gibt keinen Sinn.
04:25Wer versichert schon so ein Bretterverschlag?
04:27Nee, eher Freudenfeuer.
04:29Spuren von Paraffin, wahrscheinlich Kerzen, wie jedes Mal.
04:32Wie jedes Mal?
04:34Hier brennt praktisch jedes Jahr so eine Scheune ab.
04:37Immer in dieser Jahreszeit.
04:39November-Scheunen.
04:41Jedenfalls immer um die Zeit.
04:44Nehmen wir die Scheune zu den Akten?
04:46Ich nehme alles zu den Akten.
04:48Sollen die später einmal sehen, was wir alles zu tun hatten.
04:51Manchmal hatte Schmoll einen Anflug von Humor,
04:53war mir allerdings nie sicher.
04:55November-Scheunen.
04:57Wie meinen?
04:59Sagte der Mann von der Feuerwehr.
05:01Jedes Jahr das Gleiche, immer im November.
05:03Werden wir gleich haben.
05:05Moment mal.
05:07Tatsächlich.
05:09Habe ich selber geschrieben, die Meldung.
05:11Letzten November unterhalb der Försterrappe-Eiche,
05:13mitten im Brachgebiet.
05:15Eine Scheune, restlos abgebrannt.
05:17Sachwert nicht zu ermitteln.
05:19Anzeige gegen unbekannt.
05:21Jetzt würde mich mal sehr interessieren.
05:23Sind die die Akten von November der letzten 10 Jahre?
05:27Wenn Schmoll seine Aktenwut hat, muss man ihn lassen.
05:30Jedes Wort von mir hätte betriebspsychologisch
05:32zu einer Katastrophe geführt.
05:35Spätabends versuchte ich,
05:37ein leckeres Asiagericht in der Mikrowelle zuzubereiten.
05:40Aber die Mikrowelle tickte nur wie eine Bombe
05:42und gab dann den Geist auf.
05:44Nicht weiter schlimm.
05:46Ich hatte sowieso kaum Hunger.
05:48Vielleicht lag es am November.
05:50November-Blues?
05:52Ich legte mich aufs Bett und horchte wieder,
05:54ob das Haus irgendwelche Geräusche von sich gibt.
05:56Nichts.
05:58Alles Scheintote.
06:00Damit schlief ich ein.
06:05Mitten in der Nacht wachte ich auf.
06:09Ganz deutlich zu hören.
06:11Irgendjemand ging da in der Wohnung über mir herum.
06:15Was dann folgte, klang nicht nach Scheintoten.
06:28Als der Song aufhörte, blieb es ruhig.
06:32Trotzdem.
06:34Da war also Leben über mir.
06:36Wie beruhigend.
06:50Morgen.
06:52Guten Morgen.
06:54Begrüße den neuen Bewohner in unserem Gemäuer.
06:56Danke.
06:58Nebe mein Name, dritter Stock.
07:00Ich wohne hier ein halbes Jahrhundert.
07:02Nein, noch länger.
07:04Ich bin sozusagen der Spiritus-Rektor des Hauses.
07:06Spiritus-Rektor.
07:08Das kann ja hier noch heiter werden, dachte ich.
07:10Der Herr mochte in den 70ern sein,
07:12aber man sah es ihm kaum an.
07:14Schlanke Figur, einen halben Kopf größer als ich,
07:16Hakennase, wallendes, zurückgekämmtes Haar.
07:19Er machte einen stark vergeistigten Eindruck.
07:22Konnte allerdings auch sein,
07:24dass er auf irgendeine Weise verrückt war.
07:26Leider bin ich noch nicht dazu gekommen,
07:28aber es gibt viele.
07:30Unter Ihnen wohnt eine ältere Dame,
07:32Frau Lippmann, ehemalige Lehrerin, Altphilologin.
07:34Nette Frau, aber ein bisschen verwirrt,
07:36wenn Sie verstehen.
07:38Und wie gesagt, im Parterre, da wohne ich.
07:40Und über mir?
07:42Über Ihnen?
07:44Mir war so, als wenn...
07:46Das wäre erstaunlich.
07:48Über Ihnen lebt niemand.
07:50Seit Ewigkeiten nicht.
07:52Merkwürdig.
07:54Gut, ich will dann mal.
07:58Morgen, Herr Nebe.
08:00Panzer hat immer noch Magen-Darm.
08:02Und der Schmoll hat sich die Akten ab 1980 kommen lassen
08:04und hockt in seinem Zimmer.
08:06Sonst noch was?
08:08Was meinen Sie?
08:10Kein Raub, kein Mord, irgendwas abgebrannt?
08:12Negativ.
08:14Ach, wie trostlos alles.
08:16Sie sind nicht witzig, aber trotzdem muss ich lachen bei Ihnen.
08:18Bin dann in der Morgenbesprechung.
08:20Jaja, gibt eine Menge zu tun.
08:22Ich sag nur, Betriebsklima.
08:24Möglicherweise erachten Sie es als unerheblich,
08:26aber bis auf wenige Ausnahmen hatten wir tatsächlich
08:28in den letzten 30 Jahren Scheunenbrände.
08:30Und zwar immer im November.
08:32Ich dachte ans Betriebsklima und sagte...
08:34Irgendwelche Personenschäden bei diesen Bränden?
08:36Darüber steht hier nichts.
08:38Immer nur kurze Vermerke über einen Scheunenbrand.
08:40Aber etwas anderes ist höchst interessant.
08:42Der Zeitpunkt.
08:44Immer in der Nacht von 22. auf den 23. November.
08:46Ja.
08:48Tatsächlich interessant.
08:50Tun Sie nicht so, Herr Nebe.
08:52Ich weiß doch, was Sie von meiner Aktenarbeit halten.
08:54Wollen Sie wissen, was mich an Akten interessiert?
08:56Hm?
08:58Ich sag's Ihnen.
09:00Mich interessieren Regelmäßigkeiten.
09:02Und zwar solche, die wir in unserem Polizistenleben
09:04nicht durchschauen.
09:06Sie werden es nicht glauben, Schmoll.
09:08Aber die interessieren mich auch.
09:10Danke für Ihr Verständnis, Herr Nebe.
09:12In der nächsten Nacht blieb alles Toten still über mir.
09:14Keine Schritte, keine Beatles.
09:16Als ich am Morgen aus meiner Wohnung kam,
09:18traf ich auf dem Treppenflur Herrn Zacharias.
09:20Er kam von oben,
09:22wo angeblich niemand wohnte seit Ewigkeiten,
09:24wie er so dezidiert gesagt hatte.
09:26Vielleicht sah ich ihn deswegen
09:28ein wenig erstaunt an.
09:30Er blieb stehen und sagte...
09:32Möglicherweise haben Sie sich nicht getäuscht,
09:34als Sie von oben etwas gehört zu haben glaubten.
09:36Musik.
09:38Aber es hat mich nicht gestört.
09:40Musik?
09:42Ja, die Beatles.
09:44Ach, wirklich?
09:46Nun, da wir jetzt unter einem Dach wohnen,
09:48ist es vielleicht angebracht,
09:50die Wahrheit unseres Hauses einzuweihen.
09:52Kommen Sie.
09:54Folgen Sie mir.
09:56Herr Zacharias ging vor mir die Treppe hoch.
09:58Oben kam man direkt auf einen langen Flur,
10:00von dem Türen abgingen.
10:02Das waren die Büros.
10:04Büros der Firma Tietze.
10:06Kämme und Knöpfe kurz waren.
10:08Hinter dieser Tür hier aber
10:10befand sich kein Büro.
10:12Das war das Zimmer des jungen Mannes.
10:14Die Tür ist unverschlossen.
10:16So wurde es verfügt.
10:18Werfen Sie einen Blick in das Zimmer,
10:20damit Sie sehen, was sich über Ihnen befindet.
10:22Er öffnete die Tür und ich blickte
10:24in ein Zimmer mit einer grünlichen Tapete,
10:26einem Bett mit einer grüngelblichen
10:28Tagesdecke,
10:30einem Schreibtisch mit einer Schreibmaschine,
10:32Bücher, ein Regal mit Schallplatten
10:34und einem Telefunken-Schallplattenspieler.
10:36Das ganze Interieur
10:38wie in einer Ausstellung über die 60er Jahre.
10:40Das Zimmer des Heinrich Tietze.
10:42Er war 16,
10:44als er seinen Abschiedsbrief schrieb,
10:46auf dieser Schreibmaschine da
10:48und sich dann auf einem
10:50Schalterhaufen selbst anzündete.
10:52Ich kann
10:54in diesem Land der Täter nicht
10:56mehr leben. Werft mich
10:58in alle vier Winde.
11:00Werft mich in alle vier Winde?
11:02Seine Eltern haben mir den Brief gezeigt.
11:04Ich war damals ein junger Buchhalter
11:06in der Firma und bewohnte eine kleine
11:08Kammer im Erdgeschoss.
11:10Und wer war vorgestern
11:12Nacht hier?
11:14Gute Frage.
11:16Vielleicht irgendwelche Verbande,
11:18so es noch irgendwelche von Ihnen
11:20auf der Welt gibt.
11:22Seine Eltern haben nach dem Selbstmord
11:24ihres einzigen Sohnes
11:261963 dieses Land verlassen.
11:28Für seinen Vater
11:30war es das zweite Mal.
11:32Er wurde vor dem Krieg nach England verschickt.
11:34Seine Eltern, die Großeltern
11:36des Jungen, wurden
11:38in Auschwitz umgebracht.
11:40Muss ich Ihnen mehr darüber erzählen?
11:42Vielleicht kommt
11:44manchmal jemand in irgendeiner Nacht
11:46und von irgendwo auf der Welt,
11:48um hier des Jungen zu gedenken.
11:50Darum muss die Tür
11:52immer unverschlossen sein.
11:54So wurde es testamentarisch verfügt.
11:56Unverschlossen wie
11:58eine Kirchentür, verstehen Sie?
12:00Die sollte ja auch immer offen sein.
12:02Möglich.
12:04Und alles soll so bleiben.
12:06Das wurde auch verfügt.
12:08Nichts in diesem Zimmer soll verändert werden.
12:10So.
12:12Nun wissen Sie alles.
12:14Überlegen Sie gut, ob Sie hier bleiben wollen.
12:16Kann für empfindliche
12:18Gemüter belastend sein.
12:20Ja, es war
12:22ein wenig belastend, das gebe ich zu.
12:24Vor dem Haus fand sich
12:26ein goldener Stolperstein.
12:28Das war mir vorher gar nicht aufgefallen.
12:30Es gibt einige davon in Rotenburg,
12:32auf denen die Namen der Großeltern eingraviert waren.
12:40Herr Panzer ist wieder da.
12:42Sieht immer noch ein bisschen grün aus im Gesicht.
12:44Grün?
12:46Kaffee oder schon mal Kamillentee
12:48zum Morgengespräch?
12:54So, meine Herren,
12:56ich habe die Sache jetzt durch.
12:58Jedenfalls bis 1980.
13:00Sage und schreibe, 21 Scheunen
13:02sind in dieser Zeit abgebrannt.
13:04Und es gibt nur noch
13:06zwei Scheune.
13:0822 Scheunen sind in dieser Zeit abgebrannt.
13:10Und alle am 22. November.
13:12Okay.
13:14Und wann ging das los mit den Scheunen?
13:16Die Akten fangen bei 1980 an.
13:18Die davor sind geschreddert, also graue Vorzeit.
13:22Die Frage ist, warum immer am 22. November?
13:24Das müsste doch irgendeinen Sinn ergeben.
13:26Finde ich auch.
13:28Vielleicht gibt es den Weltjahrestag
13:30des Scheunenabbrennens.
13:32Sonst fällt Ihnen nichts dazu ein, Panzer.
13:34Entschuldigung, war ein Witz.
13:36Irgendwas am 22. November?
13:38Irgendwas, was man wissen müsste?
13:40Also ich habe mal bei Google nachgesehen.
13:42Deutsch-Französischer Vertrag in Paris,
13:44Adenauer und De Gaulle,
13:46Tod von Kennedy in Dallas und die Beatles bringen in London
13:48ihr zweites Album mit den Beatles raus.
13:50Alles am 22. November,
13:52allerdings 1963.
13:54Paris, Dallas, London, was war hier?
13:56In Rotenburg an der Fulda.
13:58Scheunenabbrennen?
14:0021 Stück, wenn das nichts ist?
14:02Man könnte ja mal spaßeshalber...
14:04Hier gibt es doch sicher so ein Heimatblatt.
14:06Vielleicht ist hier in Rotenburg
14:08an einem 22. November irgendwas passiert.
14:10Und alle haben es vergessen.
14:12Deswegen brennen die Scheunen am 22. November.
14:14Jedenfalls könnte man mal
14:16einen Blick in deren Archiv werfen.
14:18Vielleicht haben die was.
14:20Habe ich Sie jetzt angesteckt, Herr Nebe?
14:22Das hätte mir aber auch richtig leid.
14:24Weiß ich nicht, ob er mich angesteckt hatte.
14:26Vielleicht betrachtete ich es eher
14:28als eine Art Ablenkung.
14:30Ich sagte ja schon einmal,
14:32dass Langeweile hier das Hauptproblem ist.
14:34Mir kam es ehrlich gesagt so vor,
14:36als seien wir eine Scheinfirma
14:38zu Übungszwecken,
14:40in der nur so getan wird,
14:42als wenn richtige Arbeit geleistet wird.
14:44Das Ganze nur zum Training
14:46und um den Ernstfall zu simulieren.
14:48Wenn ich geahnt hätte,
14:50dass wir drauf und dran waren,
14:52in einen Ernstfall hineinzuschlittern.
14:54Mittags aß ich extra hot
14:56in einem Asia-Imbiss,
14:58um das schale Gefühl
15:00auszudrücken.
15:02Als ich ins Büro kam,
15:04saßen Schmoll und Panzer
15:06vor einem Stapel von alten Ausgaben
15:08unseres hiesigen Heimatblättchens.
15:10Sie hatten meine Anregung
15:12tatsächlich ernst genommen.
15:14Ich sagte ja,
15:16wie in einer Übungsfirma.
15:18An einem 22. November
15:20ist anscheinend nie etwas passiert
15:22in Rotenburg an der Fulda.
15:24Allerdings am 22. November 1963,
15:26da gab es eine ganze Sondernummer
15:28und junge Leute zogen mit Kerzen durch die Stadt.
15:30Mit Kerzen. Am 22. November.
15:32Was? Die Scheunen brennen also für Kennedy?
15:34Oder was wollen Sie damit sagen?
15:36Es gibt komische Sachen.
15:38Ja. Steht sonst noch was drin in unserem Blatt?
15:40Nicht am 22. November,
15:42aber am 23. habe ich was.
15:44Letzte Seite. Rubrik, die Kriminalpolizei meldet.
15:46Was denn?
15:48Ein junger Mann kam in der Nacht
15:50bei einem Feuer auf dem offenen Felde ums Leben.
15:52Ob Fremdverschulden,
15:54Unfall oder Selbstverbrennung
15:56muss noch ermittelt werden.
15:58Eventuelle Zeugen oder sachdienliche Hinweise an die hiesige...
16:00Selbstverbrennung?
16:02Werft mich in alle vier Winde.
16:04Unwillkürlich dachte ich sofort an den Jungen,
16:06der einmal in dem Zimmer über mir gelebt hatte.
16:08Warum interessierte er mich so sehr?
16:10Vielleicht, weil er 16 war
16:12und ich auch mal 16 war
16:14und manchmal auch ziemlich geheime Gedanken gehabt hatte?
16:16Aber im Land der Täter.
16:18Sich umbringen wegen der großen Weltgeschichte.
16:20Unglaublich für einen 16-Jährigen.
16:22Oder?
16:24Und?
16:26Gab es solche Hinweise?
16:28Woher sollen wir das wissen?
16:301963 ist bei uns geschreddert.
16:32Auch das, was in den Köpfen ist?
16:34Erinnerung zum Beispiel?
16:36Obwohl das mit dem jungen Weißgott nicht lustig war,
16:38betrachtete ich es immer noch als Spiel.
16:40Ein absurdes, aber durchaus auch interessantes Spiel.
16:42Abends ging ich gut gelaunt
16:44zu einer Veranstaltung.
16:46Und so begrüße ich Sie alle
16:48auf das Herzlichste
16:50zu unserem bisherigen Lesemaratan
16:52der Poetry Slam,
16:54veranstaltet vom Leseverein Rothenburg e.V.
16:56Also, wer von unseren jungen Wilden
16:58macht sich als erster in die heiße Arena?
17:00Linda, die Postbotin und Winkfreundin,
17:02wir winken uns immer zu, wenn wir uns sehen,
17:04hatte mich zu der Veranstaltung eingeladen.
17:06Keine Ahnung warum.
17:08Wer weiß, vielleicht hat er sie ein Auge auf mich geworfen.
17:10Das Publikum im Saal des Hotels
17:12war gemischt. Junge wie alte,
17:14Frauen und Männer.
17:16Irgendwo zwischen den Menschen,
17:18die Veranstaltung war gut besucht
17:20und die Menschen zu sein,
17:22entdeckte ich meinen Hausgenossen,
17:24Herrn Zacharias.
17:26Und da erst fiel mir der Name
17:28dieses Jungen wieder ein,
17:30Heinrich Tietze.
17:32Zuerst traten einige Nachwuchsliteraten
17:34bzw. innen ans Mikrofon,
17:36manche übten sich in Lautmalerei.
17:38Fli-i-sen,
17:40Gi-i-sen, Sti-i-sen.
17:42Oder sie gaben mehr oder weniger
17:44originelle Aphorismen in der Preislage von
17:46Die schärfsten Kritiker der Elche
17:48oder selber welche zum Besten,
17:50was einigermaßen ankam.
17:52Dann entdeckte ich sie.
17:54Die Frau. Sie kam durch die Tür.
17:56Die Frau, die am Bahnhof gestanden
17:58und zu mir hochgesehen hatte.
18:00Die Frau mit dem Poncho und dem roten Hütchen.
18:02Sie trat ganz aufrecht
18:04an das Mikrofon.
18:06Es wurde still.
18:08Das ist sie wieder. Und sie ist immer noch so schön.
18:10Im Schätzen des Alters einer Frau,
18:12zumal einer schönen Frau,
18:14und das war sie, war ich nie gut.
18:16Ich würde mal sagen, sie war eine reifere Frau.
18:18Elegant. Typ den Nerv.
18:20Mein Name ist Rosa Müller.
18:22Einige unter Ihnen
18:24kennen mich vielleicht nicht persönlich,
18:26aber als Vortragende.
18:28Ja, ich
18:30komme immer mal wieder zu dieser
18:32Veranstaltungsreihe, um ein
18:34Kapitel aus meinem künftigen Roman zu lesen,
18:36der den Titel
18:38Rothenburg tragen soll.
18:40Ein fiktionaler
18:42Roman. Trotzdem
18:44erschien es mir immer als ganz natürlich,
18:46hier in dieser Stadt, die
18:48diesen Namen trägt, zu lesen.
18:50Manchen,
18:52die vielleicht schon auf das nächste
18:54Kapitel gewartet haben,
18:56muss ich nun enttäuschen.
18:58Ich werde heute nicht lesen.
19:00Es würde mich aus verschiedenen
19:02Gründen überfordern.
19:04Ich bitte um Ihr Verständnis.
19:06Als Trost aber
19:08und für ganz Interessierte
19:10hinterlege ich am Ausgang
19:12einige Exemplare über den Anfang
19:14meines zwölften Kapitels.
19:16Ich hoffe,
19:18dass ich im nächsten Jahr in der Lage sein werde,
19:20das ganze Kapitel,
19:22das letzte, persönlich
19:24vorzutragen.
19:26Ich danke Ihnen sehr.
19:28Ihr Abgang hatte etwas von einer Grundarm.
19:30Was war denn das?
19:32Sie kommt schon lange.
19:34Manchmal liest sie lange vor, heute nicht. Schade.
19:36Ich höre ihr so gerne zu
19:38und sie ist so schön.
19:40Wollen Sie meinen geheimsten Wunsch wissen?
19:42Mhm.
19:44Ich wünschte, ich wäre wie diese Dame.
19:46Irgendwie eine Erscheinung? Ja.
19:48So etwas möchte ich auch sein. Verstehen Sie nicht was?
19:50Ich weiß nicht, wie sie sich Linda vorstellt.
19:52Sie hatte kurze, struppige Haare
19:54und normalerweise eine kodrige Schnauze.
19:56Jedenfalls nichts von
19:58Catherine Deneuve.
20:00Offenbar dem alter Ego von Linda. Seltsam.
20:02Aber vielleicht sind es ja
20:04zwei Seiten der gleichen Medaille.
20:06Und was liest sie, die Dame, wenn sie liest?
20:08Also ehrlich gesagt,
20:10verstehen tue ich es nicht,
20:12aber es spielt gar keine Rolle.
20:14Irgendwas Fernes.
20:16Und sie kommt aus der Ferne.
20:18Vielleicht ist es das, was...
20:20Verstehen Sie wieder nicht was?
20:30In der Nacht,
20:32vollkommen still in unserem Haus,
20:34las ich in dem ungelesenen Kapitel der Frau.
20:36Ich hatte mir ein Exemplar ergattert.
20:38Es handelte sich um den Ausschnitt
20:40eines Romans, dessen Handlung sich mir nicht erschloss.
20:42Offenbar spielte die Geschichte
20:44in den 50er, 60er Jahren
20:46von der klebrigen Zeit, war die Rede.
20:48Die Leute fuhren dauernd Plastikbomber,
20:50Lloyd Alexander T.S.,
20:52die Mädchen trugen Petticoats
20:54und die Jungs rauchten Stolvesand oder Habee.
20:56Die Jungs, die in dem Kapitel
20:58vorkamen, lasen alle unglaublich
21:00viel dolle Sachen. Camus,
21:02Sartre, Ben und so was.
21:04Die Mädchen anscheinend mehr damit beschäftigt waren,
21:06sich die Haare mit Wasserstoffperoxyd
21:08kaputt zu machen und sonst keine
21:10weiteren Interessen hatten.
21:12Mit gutem Willen konnte man der Autorin zugute
21:14halten, dass sie damit die frühen
21:1660er Jahre charakterisieren wollte,
21:18an die ich mich selber kaum erinnern konnte.
21:20Ich jedenfalls konnte
21:22mit der etwas wirren Geschichte nichts anfangen.
21:24Und Namen
21:26kamen vor. So viele merkwürdige
21:28Namen wie in einem russischen Roman,
21:30wo ich sofort das Handtuch schmeiße.
21:32Ich wollte den Text
21:34auch schon weglegen, als ich auf eine interessante
21:36Stelle stieß. Da war
21:38die Rede von einem Treffpunkt,
21:40einem Zimmer, genannt das Grüne Zimmer.
21:42Und je mehr ich las,
21:44wurde mir klar, dass hier das
21:46Zimmer beschrieben wurde, das sich genau
21:48über mir befand.
21:50Die grünen Tapeten, die grüngelbe
21:52Tagesdecke auf dem Bett, die Schreibmaschine,
21:54der Telefunken-Schallplattenapparat,
21:56sogar die Plattensammlung, besonders die Beatles,
21:58wurden erwähnt.
22:00Ich legte das Manuskript beiseite und
22:02sah an die Decke über mir.
22:04Da wurde mir klar, wenn ich
22:06noch mehr über den Jungen erfahren und
22:08damit unsere Scheinfirma am Laufen halten wollte,
22:10dann müsste ich mich einmal
22:12mit dieser Frau unterhalten.
22:14Könnte Stoff ergeben.
22:16Stoff für mein Spiel.
22:18Oder war es schon kein Spiel mehr.
22:22Am nächsten Morgen stand ich mit
22:24meinem Kaffee am Fenster und sah hinunter auf die
22:26Straße.
22:28Da sah ich sie wieder, die Frau.
22:30Sie trug wieder dieses rote Hütchen und den Poncho
22:32und am Arm ihre Reisetasche.
22:34Sie war offenbar im Begriff
22:36abzureisen.
22:38Bevor sie im Bahnhof verschwand,
22:40sah sie wieder hoch zu mir, aber ich wusste,
22:42dass sie zu dem Zimmer sah, das sich über mir befand,
22:44dem grünen Zimmer.
22:46Ich zog schnell meinen Mantel an und wollte die Frau
22:48noch erwischen, aber als ich unten war,
22:50fuhr der Schienenbus schon los und weg war sie.
22:58Morgen, Herr Nebe.
23:00Kein Mord.
23:02Kein Brand.
23:04Aber ihre Mitarbeiter erwarten
23:06sich schon gespannt.
23:08Ist irgendwas im Busch?
23:14So, Herr Nebe,
23:16ich habe mir mal Gedanken gemacht
23:18über das, was Sie gestern gesagt haben.
23:20Das, was in den Köpfen drin ist.
23:22Die Erinnerung.
23:24Man würde doch zu gern wissen,
23:26was genau mit dem Jungen passiert ist,
23:28damals am 22. November 1963.
23:30Ja, und warum die Scheunen brennen.
23:32Genau, ja, richtig.
23:34Ja, es muss doch irgendwelche Zeugen geben,
23:36auch wenn es ein Unfall oder eine Selbstverbrennung war.
23:38Aber in den nächsten Ausgaben der Zeitung
23:40steht nichts davon, nichts.
23:42Als wenn man die Sache vergessen wollte.
23:44Der Kollege, der damals auf Ihrem Posten saß,
23:46Herr Nebe, hieß Radtke,
23:48der alte Radtke.
23:50Wenn Sie hier im Ort Leute fragen,
23:52der ist noch drin in manchen Köpfen.
23:54Ob in seinem noch was drin ist, ist die Frage.
23:56Ich meine, verbringt er nicht seine Tage
23:58im Pflegeheim und des Jenseits von Gut und Böse?
24:00Was sind diese jungen Leute bloß zynisch,
24:02finden Sie nicht, Herr Nebe?
24:04Man könnte dem verdienten älteren Kollegen
24:06doch einen Besuch abstatten,
24:08mit Blumen und so.
24:10Kann es doch keiner verdenken.
24:12Was meinen Sie, Herr Nebe?
24:14Natürlich war die Vorgehensweise nicht ganz korrekt,
24:16denn im strengen Sinne gab es keine
24:18dienstliche Veranlassung für die Befragung
24:20und nichts anderes war es ja.
24:22Ich war mein Schirm, besonders ich.
24:24So gab ich meine Zustimmung.
24:28Wer behaupten Sie zu sein?
24:30Sagen Sie nicht meine Söhne,
24:32das zieht bei mir nicht mehr.
24:34Nein, Herr Radtke, obwohl in gewissem Sinne...
24:36Können Sie sich noch an den Fall
24:38Heinrich Tietze erinnern?
24:40Möglicherweise eine Selbstverbrennung,
24:42möglicherweise was anderes.
24:441963 war das.
24:46Wann, sagten Sie?
24:481963.
24:50Lange her, was?
24:52Aussichtslos. Wir wollten schon gehen,
24:54da fiel mir etwas ein.
24:56Ich nenne es das Kennedy-Prinzip,
24:58funktioniert immer.
25:00Wenn man Leute bestimmter Altersgruppen fragt,
25:02was sie am Tage von Kennedys Tod gemacht haben,
25:04können sich fast alle
25:06an kleinste Einzelheiten erinnern.
25:08Der 22. November 1963
25:10war auch der Todestag von Kennedy.
25:12Reiner Zufall?
25:14Todestag von Kennedy?
25:16Ich war beim Friseur.
25:18Das war schon etwa damals Mode,
25:20obwohl, da kam die Meldung durchs Radio.
25:22Ja, und was noch?
25:24Woran erinnern Sie sich?
25:26War ein Freitag.
25:28Nieselwetter war schon dunkel.
25:30Draußen auf der Straße liefen viele Menschen rum.
25:32Mit Kerzen?
25:34Manche auch mit Feuerzeugen.
25:36In der Nacht gab es einen Brandfall.
25:38Einen Brandfall?
25:40Ach, das nennen Sie.
25:42Sie meinen den Jungen, der sich auf einem Scheiterhaufen
25:44verbrannt hat, wegen Kennedy.
25:46Vielleicht, ja.
25:48Können Sie sich noch an die Sache erinnern?
25:50Dunkel.
25:52Dunkel?
25:54Seine Freundin wollte es nicht glauben.
25:56Seine Freundin?
25:58Die war bei uns und heulte dauernd,
26:00dass er umgebracht wurde.
26:02Wir haben es sogar ermittelt.
26:04War aber wohl nichts.
26:06An den Namen dieses Mädchens
26:08können Sie sich nicht zufällig erinnern?
26:10Nein.
26:12Reicht das nicht?
26:14Sie war möglicherweise die Freundin von Heinrich Thietze.
26:16Wie sonst konnte sie von
26:18dem grünen Zimmer wissen?
26:201963 könnte sie so ungefähr
26:22fünfzehn oder sechzehn Jahre alt gewesen sein.
26:24War es denkbar,
26:26dass sie dieses Zimmer, das grüne Zimmer,
26:28von Zeit zu Zeit aufsuchte,
26:30vielleicht der alten Zeiten wegen,
26:32obwohl alles schon ein halbes Jahrhundert
26:34her war?
26:36Nein, eher unwahrscheinlich.
26:38Das gibt es nicht mal in Groschenromanen.
26:40Aber sie war es möglicherweise,
26:42dass sie von Heinrich Thietzei gewesen war
26:44und behauptet hatte,
26:46dass ihr Freund umgebracht wurde.
26:48Sind das Fakten?
26:50Nein, alles Hypothesen und graue Theorien.
26:52Novembertheorien.
26:54Trotzdem, ich entschloss mich,
26:56das Spiel weiterzuspielen.
26:58Jetzt aber mit offenen Karten
27:00und so weihte ich meine Kollegen
27:02in meine Gedankenspiele ein.
27:04Panzer prägte das Wort.
27:06Er sprach es ein bisschen ironisch aus.
27:08Cold Case.
27:11Wer redet von Akten?
27:13Nein, Sie reden ja neuerdings von Köpfen.
27:15Was da drin ist.
27:17Ja, und in dem Kopf von dem alten Radtke,
27:19was war da drin?
27:21Nicht nur, dass er beim Friseur war,
27:23es ein Freitag war, dass es nieselte
27:25und die Menschen mit den Kerzen.
27:27Entschuldigung, so ein Zeugen müssen Sie erstmal finden.
27:29Und dann sagt er noch aus,
27:31dass ein Mädchen auf der Polizei war
27:33und behauptete, der Junge sei umgebracht worden.
27:35Damit würde ich vorsichtig sein.
27:37Der Mann ist uralt.
27:39Und die Frau.
27:41Könnte ich mal einen Blick in Ihr Gästebuch werfen?
27:43Ich hatte beiläufig meinen Dienstausweis gezückt
27:45und hoffte, dass der Mann hinter dem Hoteldesk
27:47nicht so genau hinsah.
27:49Schließlich gab es ja gar keinen Fall,
27:51der mich berechtigt hätte, solche Fragen zu stellen.
27:53Panzer und Schmoll klapperten derweil
27:55die Pensionen und Gästezimmer ab.
27:57Wahrscheinlich würde man uns alle feuern,
27:59wenn das herauskäme.
28:01Etwas ungewöhnlich, wie wäre denn der Name des Gastes?
28:03Rosa Müller.
28:09Bedaure.
28:11Kein Eintrag mit diesem Namen.
28:13Schmoll hatte mehr Glück.
28:15Sie hatte für drei Tage gebucht in eine Pension.
28:17Gestern Morgen wäre sie abgereist,
28:19ohne eine Adresse zu hinterlassen.
28:21Damit hatten wir sie verloren, die Frau.
28:23Und ich sage noch hinzu,
28:25wir haben sie auch nie gefunden.
28:27In der Nacht nahm ich mir noch einmal
28:29das Manuskript der Frau vor.
28:31Wieder die klebrige Zeit,
28:33das Spießige, wogegen es zu kämpfen galt.
28:35An diesen Stellen der Ton fast pubertär,
28:37ein bisschen Fantasy,
28:39ein bisschen Verschwörungstheorie.
28:41Schwer zu verbinden mit dem Bild von Rosa Müller,
28:43der grauen Dame mit der Ausstrahlung
28:45von Catherine Deneuve.
28:47Dann aber wieder die präzise Beschreibung
28:49des Zimmers über mir.
28:51Die Frau mußte dieses Zimmer
28:53mit eigenen Augen gesehen haben
28:55und sie mußte mehr wissen.
28:57Ich sah auf die Uhr, es war kurz nach zwei.
28:59Dann tat ich es.
29:01Ich zog mir was über und stieg die Treppe hoch.
29:07Wonach ich suchte?
29:09Ich weiß es nicht.
29:11Irgendwas Persönliches, irgendwelche Hinweise,
29:13Notizen, Schnipsel, was weiß ich.
29:15Ich zog die Schublade des Tisches auf,
29:17keinerlei Zettel,
29:19nur einige 50-Pfennig-Stücke, sonst gar nichts.
29:21Ich sah mir die Plattensammlung an,
29:23die Beatles, Dave Brubeck, Jazz und Lyrik,
29:25keine Rolling Stones.
29:27Dann die Bücher, ziemlich viele,
29:29Hugo von Hoffmannsthal, Rilke,
29:31Sartre, Camus, Rimbaud,
29:33Gottfried Benn, Stefan George.
29:35Dahinter allerdings, in der zweiten Reihe,
29:37der Kinsey-Report,
29:39das sexuelle Verhalten der Frau.
29:41Ich setzte mich an den Schreibtisch
29:43mit der Schreibmaschine.
29:45Da fiel der Groschen, die Schreibmaschine.
29:47Sie war sozusagen
29:49das geistige Zentrum dieses Zimmers,
29:51ganz eindeutig.
29:53Dem Jungen muß sie wichtig gewesen sein,
29:55so wie für andere Jungs die E-Gitarre.
29:57Er mußte darauf geschrieben haben,
29:59auf der Schreibmaschine.
30:01Wozu steht sie sonst da?
30:03Aber nirgendwo ein Blatt Papier,
30:05weder beschrieben noch unbeschrieben.
30:07Nicht mal im Papierkorb.
30:09Jemand hatte aufgeräumt.
30:11Ein Sakrileg.
30:19Am nächsten Morgen,
30:21es war Samstag und ich wollte
30:23ein paar notwendige Besorgungen machen,
30:25traf ich im Treppenhaus zum ersten Mal
30:27auf die andere Bewohnerin des Hauses,
30:29Frau Lippmann, von der mir Herr Zacharias
30:31ja schon erzählt hatte.
30:33Sie schien hinter ihrer Tür auf mich gewartet
30:35zu haben und starrte mich misstrauisch an.
30:37Ich schätzte ihr Alter
30:39auf ungefähr 80.
30:41Ich bin ihr neuer Nachbar.
30:43Mein Name ist Nebe.
30:45Nebe? Und ihr anderer Name?
30:47Mein anderer Name?
30:49Ich komm noch drauf, glauben Sie mir.
30:51Damit zog sie die Tür rasch wieder zu.
30:53Ich nehme an, Herr Zacharias hat er stark untertrieben,
30:55als er die alte Dame als nur ein bisschen verwirrt
30:57beschrieben hatte.
30:59Das kannte ich jetzt alle Bewohner des Hauses.
31:03Auf der Straße sah ich Linda auf ihrem Moped.
31:05Ich hielt sie an.
31:07Keine Post für Sie.
31:11Erwarten Sie was Aufregendes?
31:13Können Sie mir eine Frage beantworten?
31:15Was wissen Sie über diese Frau?
31:17Sie wissen schon welche?
31:19So wichtig für Sie?
31:21Und wenn?
31:23Herr Nebe, ich glaube, Sie verlieben sich
31:25immer in die falschen Frauen.
31:27Aber vielleicht ist das ja das Spannende.
31:29Die Frau kommt und geht und ich muss jetzt
31:31aber auch mal wieder weiter.
31:39Am Abend las ich wieder
31:41einen Text von der Frau.
31:43Keinerlei Aufschluss über den Sinn der Geschichte.
31:45Offenbar aber hatten
31:47irgendwelche konspirativen Treffen
31:49in dem Zimmer über mir stattgefunden.
31:51Eide wurden gesprochen,
31:53von einem großen Geheimnis war die Rede.
31:55Es ging wie ein König-Arthus-Tafelrunde.
31:57Nicht mein Fall, wirklich nicht.
31:59Aber ich ging die Sache jetzt systematisch an
32:01und machte eine Art Personenverzeichnis.
32:03Sechs Namen extrahierte ich.
32:05Sechs Personen,
32:07die offenbar an diesem Treffen da oben
32:09im grünen Zimmer teilgenommen hatten,
32:11wenn ich richtig lag.
32:13Aber die Namen würde man nicht im Telefonbuch
32:15von Rothenburg finden.
32:17Kleist, Rilke, Kafka, Tucholsky.
32:19Nein, nein.
32:21Ich will sie nicht alle aufzählen,
32:23ich will sie nicht dazu albern, das Ganze.
32:25Einen Augenblick dachte ich
32:27an die Begegnung mit der Verrückten im Treppenflur,
32:29als sie mich fragte,
32:31wie mein anderer Name wäre.
32:33Wahrscheinlich meinte sie meinen Vornamen,
32:35aber den werde ich ihr nicht sagen.
32:37Was mache ich jetzt?
32:39War das nicht Paranoia,
32:41was mich im Gange hielt, reine Paranoia?
32:43Feierabend sollte ich machen,
32:45endgültig Feierabend.
32:47Vielleicht war ich schon lange fertig,
32:49schon in Frankfurt,
32:51aber die 187 Leichen,
32:53die ich in meinem Leben gesehen habe,
32:55ein paar zu viel.
32:57Sagt man nicht Burnout dazu?
32:59Ja, und bei Burnout dachte ich wieder
33:01an den Jungen, der sich angeblich
33:03selbst verbrannt hatte,
33:05und dann ging das Ganze wieder von vorne los,
33:07immer im Kreis.
33:17Morgen, Herr Nebe.
33:19Immer noch Cold Case?
33:21Ich habe alle Folgen gesehen im Fernsehen.
33:23Ich freue mich schon auf die
33:25große Rückblende am Schluss.
33:27Kein Wort mehr über diesen Fall. Ist das klar?
33:29Sind die Kollegen schon da?
33:33Also ich habe mich mal rein hypothetisch
33:35natürlich mit unserem Gerichtsmediziner
33:37Dr. Jäger über Tod durch Verbrennung unterhalten.
33:39Könnte der perfekte Mord sein.
33:41Hängt von der Temperatur ab.
33:43Ein Scheiterhaufen kann gut
33:451200 Grad erreichen, je nach Windverhältnissen.
33:47Da kommt es zu einem Kamineffekt.
33:49Ist dann wie im Krematorium.
33:51Nur noch Asche.
33:53Und wo befindet sich die Asche?
33:55Die Asche von dem Jungen?
33:57Vielleicht lässt sich mit modernen forensischen Methoden noch...
33:59Och, Schmoll. Soll ich diesen ganzen Hirngespinsten
34:01noch etwas hinzufügen?
34:03Vielleicht die Namen der Zeugen?
34:05Wollen Sie wissen, wie die heißen?
34:07Kleist, Rilke, Kafka.
34:09Und so weiter.
34:11Fantasienamen aus dem Text von Rosa Müller.
34:13Wahrscheinlich auch ein Fantasiename.
34:15Finden wir heraus, wer sich hinter diesen Namen verbirgt.
34:17Und wie?
34:19Bin sicher, Sie werden sich was einfallen lassen.
34:21Ich will jedenfalls wissen, warum die Scheunen brennen
34:23am 22. November.
34:25Nein, das Spiel war nicht mehr zu stoppen.
34:27Und er hatte ja recht.
34:29Der werte Kollege Schmoll.
34:35Ich wollte gerade zu meinem Asia-Imbiss,
34:37als Linda neben mir hielt.
34:39Okay, Herr Niebe, wenn es Ihnen so wichtig ist mit der Frau,
34:41aber behalten Sie es bitte für sich.
34:43Ich habe das Gefühl, dass es mich sonst mein Job kosten könnte.
34:45Das kenne ich, das Gefühl.
34:47Ach wirklich?
34:49Und was ist jetzt mit der Frau?
34:51Ich habe so eine kleine Schwäche, wissen Sie?
34:53Ich lese Absender. Absender von Briefen.
34:55Rosa Müller?
34:57Rosa Müller.
34:59Nur Rosa Müller hinten auf den Briefen.
35:01Sonst nichts. Keine Adresse.
35:03Und vorne Briefmarken aus allen möglichen Ländern, sogar USA.
35:05Kostet Sie das jetzt schon Ihren Job, oder was?
35:07Das vielleicht noch nicht.
35:09Aber was ich Ihnen jetzt sage.
35:11Vier der Adressaten habe ich mir gemerkt.
35:13Ich weiß nicht warum.
35:15Vielleicht, weil ich mich gewundert habe.
35:17Das sind ganz normale Spießer hier aus Rotenburg.
35:19Also ich würde mit denen nie was anfangen.
35:21Aber Rosa Müller schreibt diesen Herren Briefe.
35:23Und zwar einmal im Jahr.
35:25Immer im November, wenn ich das richtig sehe.
35:27Interessiert?
35:29Linda gab mir vier Namen und vier Adressen.
35:31Und damit ging das Spiel in die nächste Runde.
35:37Peter Frieder und Winfried Barlke
35:39waren Studienrat beziehungsweise Oberstudienrat.
35:43Werner Sachse, kaufmännischer Angestellter.
35:45Gerhard Schwarze hatte eine Apotheke.
35:47Das sagte das Telefonbuch.
35:49Ich stattete der Apotheke einen Besuch ab.
35:53Nur um mal so einen Eindruck zu gewinnen
35:55von einem Mann, dem Rosa Müller Briefe schrieb.
35:57Ja, bitte.
35:59Herr Schwarze war schätzungsweise in den 60ern.
36:01Glatze, etwas dicklich und trug einen weißen Kittel
36:03mit seinem Namensschild drauf.
36:05Ja, ich...
36:07Ich könnte es zwischen Rosa Müller und ihm geben.
36:09Ja?
36:11Ich brauche etwas gegen Allergie. Die Nase.
36:13Selten eine Allergie im November.
36:15Ich sagte Ihnen schon mal,
36:17dass ich mich sehr durch den Klang der Worte
36:19beeinflussen lasse.
36:21Irgendwie hatte ich eine vage Intuition
36:23und ich ließ mich hinreißen.
36:25Vielleicht eine Novemberallergie.
36:27Eine Novemberallergie.
36:29Wie November scheunen?
36:31Wie mannen?
36:33Nein, nein, nichts. Blödsinn.
36:35Haben Sie was für meine Nase?
36:37Der Mann sah mich äußerst merkwürdig an,
36:39als er mir das Medikament reichte
36:41und ich damit die Apotheke verließ.
36:43Nein, mit solchen Metzchen
36:45konnte ich auf keinen Fall weitermachen.
36:49Also, Gerhard Schwarze,
36:51Peter Frieder, Winfried Balke,
36:53Werner Sachse.
36:55Wenn ich mal fragen darf,
36:57wie sind Sie auf diesen Namen gestoßen, Herr Nebe?
36:59Das kann ich Ihnen im Moment nicht sagen.
37:01Und was ist mit diesen Leuten?
37:03Möglicherweise Leute,
37:05die uns was erzählen können.
37:07So wie Kleist, Rilke Heine und wie noch?
37:09Leute, die in dem Zimmer
37:11bei diesem Treffen dabei waren.
37:13Leute, die damals 16, 17 Jahre alt waren,
37:15die gelesen haben.
37:17Camus, Sartre, Ben.
37:19Leseverein?
37:21Nur so ein Gedanke, Schmoy.
37:23Ah ja.
37:25An wen richtete sich diese Frau,
37:27Rosa Müller?
37:29An den Leseverein e.V.
37:31Ob man sich ein Mitgliedsverzeichnis besorgen könnte?
37:33Was meinen Sie, Schmoy?
37:35Müsste machbar sein, auf Nebenwegen.
37:37Ich danke Ihnen, Schmoy,
37:39für die Nebenwege.
37:45In der Nacht lag ich auf meinem Bett
37:47und dachte über Rosa Müller nach.
37:49Schwer zu verstehen,
37:51dass so eine Frau so ein pubertäres Zeug
37:53verfasst und damit auf eine Lesung geht.
37:55Aber vielleicht lag das Geheimnis
37:57gerade in diesem Pubertären.
37:59War sie es wirklich,
38:01die dieses Zimmer über mir
38:03von Zeit zu Zeit aufsuchte?
38:05Sentimental Journey?
38:07Aus Liebe nach 50 Jahren?
38:09Oder gab es einen ganz anderen Grund?
38:11Ich überlegte,
38:13ob ich die Erbengemeinschaft
38:15Eigentümer dieses Hauses,
38:17deren Sitz eine Kanzlei in Amerika war,
38:19wie mir der Makler bei der Unterzeichnung
38:21des Mietvertrages gesagt hatte,
38:23kontaktieren sollte.
38:25Ziemlich aussichtslose Angelegenheit,
38:27die ich in den Augen der Frau sah.
38:29Vom Haus an den Gleisen war die Rede.
38:31Ich stand auf, ging ans Fenster
38:33und sah runter.
38:35Da lagen sie, die Gleise,
38:37im gelben Natriumlicht.
38:39Ich ging wieder ins Bett
38:41und verbrachte den Rest der Nacht
38:43in einem furchtbaren Albtraum.
38:51Am nächsten Morgen war ich froh,
38:53dass die Nacht vorbei war
38:55Morgen, Herr Nebe.
38:57Überall Mord und Verbrechen,
38:59wenn man die Zeitungen aufschlägt.
39:01Nur bei uns tut sich gar nichts.
39:03Ich mache mir langsam Sorgen um meinen Job hier.
39:05Herr Schmoll wartet in seinem Büro auf Sie.
39:07Ich habe die Liste.
39:09Fragen Sie mich nicht, wie ich da rangekommen bin.
39:11Lassen Sie mal sehen.
39:13Die Vernamen sind dabei.
39:15Schwarze, Frieder, Balke, Sachse.
39:17Sogar mit Geburtsjahr.
39:19Die kommen in Frage.
39:21Alle so 16, 17 Jahre alt damals.
39:23Das könnten unsere Kandidaten sein.
39:25Für Kleist, Rilke, Hesse und Co.?
39:27Für Leute, die was wissen
39:29über den 22. November und den Tod von Kennedy.
39:31Und vielleicht über den Tod dieses Jungen.
39:33Die Scheune nicht zu vergessen.
39:35Die vielleicht für den Jungen brennen
39:37und nicht für Kennedy.
39:39Haben Sie daran mal gedacht?
39:41Ist eine gute Idee, in den Köpfen nachzugucken,
39:43wenn die Akten weg sind.
39:45Danke, Schmoll.
39:47Und wie kommen wir an diese Köpfe?
39:49Ohne jede Handhabe?
39:51Wir sind in diesem Leseverein.
39:53An wen wendet man sich da?
39:55Die vier Herren, von denen wir reden,
39:57sind übrigens alle Gründungsmitglieder
39:59und alle im Vorstand.
40:01Ah, genau. Man richtet sich an den Vorstand.
40:07Und das tat ich.
40:09Ich entschloss, mich wieder den Apotheker aufzusuchen,
40:11bei dem ich mich ja schon bestens eingeführt hatte.
40:13Hat es Ihnen geholfen,
40:15das Mittel gegen Ihre Allergie,
40:17Ihre Novemberallergie?
40:19Ja, schon. Aber warten wir mal den nächsten November ab.
40:21Womit kann ich Ihnen heute dienen?
40:23Es hat nichts mit meiner Nase zu tun.
40:25Sondern?
40:27Ich würde gerne dem Leseverein beitreten.
40:29Ich habe gehört,
40:31Sie sind einer der Vorsitzenden.
40:33So.
40:35Lesen Sie denn gerne?
40:37Naja. Er füllt mich nicht ganz aus,
40:39mein Beruf. Ich bin hier Leiter der Mordkommission.
40:41Aber es ist nicht viel los
40:43hier in dieser Beziehung.
40:45Nebe übrigens mein Name.
40:47Und was lesen Sie so, Herr Nebel?
40:49Nicht, dass Sie mich missverstehen,
40:51aber wir sind ein sehr traditionsbewusster Kreis
40:53und legen natürlich Wert darauf,
40:55wenn Sie verstehen.
40:57Ich verstehe Sie genau, Herr Schwarze.
40:59Ich lese gerne klassische Literatur.
41:01Kleist, Rilke, Heine,
41:03Tucholsky,
41:05Hesse, Kafka.
41:07Die Namen der Besuche des grünen Zimmers.
41:09Ich war gespannt auf seine Reaktion.
41:11Kleist, Rilke, Heine,
41:13Tucholsky, Hesse, Kafka.
41:15Jetzt lese ich gerade diesen Roman Rotenburg.
41:17Von der Frau,
41:19die neulich auf der Veranstaltung war.
41:21Auf das letzte Kapitel
41:23bin ich mal sehr gespannt.
41:25Gut. Ich kann über Ihre
41:27Aufnahmen nicht allein entscheiden.
41:29Ich werde mich mit meinen Vorstandskollegen beraten
41:31und Ihnen... Und? Habe ich gute Chancen?
41:33Vielleicht bessere als Sie denken.
41:35Wo erreicht man Sie?
41:37Am besten im Präsidium.
41:39Von neun bis fünf.
41:45Morgen, Herr Nebe.
41:47In Ihrem Büro warten vier Herren.
41:49Ich wusste nicht, wohin mit Ihnen.
41:51Sie sehen nicht aus wie Verbrecher.
41:53Schmoll nicht da.
41:55Mit Herrn Schmoll wollten Sie nicht reden,
41:57nur mit Ihnen.
41:59Dann bin ich ja mal gespannt.
42:03Die Herren waren alle so um die 60.
42:05Der einzige, der mir bekannt war,
42:07war Herr Schmoll.
42:09Er hat mir gesagt,
42:11dass er mich nicht erinnern kann.
42:13Der einzige, der mir bekannt war,
42:15war Herr Schwarze, der Apotheker.
42:17Die anderen stellten sich mit Frieder,
42:19Balke und Sachse vor.
42:21Die anderen Namen auf der Mitgliedsliste.
42:23Gut. Haben Sie über meinen Aufnahmeantrag entschieden?
42:25Einstimmig.
42:27Oder? Einstimmig.
42:29Ja, einstimmig. Einstimmig.
42:31Wir haben immer alles einstimmig beschlossen.
42:33Und darum sind wir jetzt hier,
42:35bei Ihnen, auf der Polizei.
42:37Sie sind bei der Mordkommission.
42:39Das wissen wir. Ach ja?
42:41Sie wissen, was wir mit uns herumgetragen haben,
42:43die ganzen Jahre.
42:45Sie wollen also eine Aussage machen?
42:47Über den Tod von Heinrich Tietze, 1963.
42:51Wir sind an seinem Tod schuld.
42:53Jedenfalls mitschuldig.
42:55Normalerweise bringen Leute bei solchen Dingen
42:57ihre Anwälte mit.
42:59Ich will Sie nur darauf hinweisen, dass...
43:01Wir haben keine Anwälte mitgebracht,
43:03weil wir uns nicht verteidigen wollen.
43:05Wir wollen uns anklagen.
43:07Wollen wir das? Ja, wir wollen.
43:09Mein Name war Kleist.
43:11Meiner Hisse.
43:13Und meiner Kafka.
43:15Ich habe sofort gewusst, dass Sie der Wahrheit
43:17auf der Spur sind.
43:19Sie haben es mir ja recht deutlich gemacht.
43:21In gewisser Weise bin ich Ihnen dankbar,
43:23gerade weil wir schon lange in einer Hölle lebten.
43:25Die Hölle sind nicht die anderen,
43:27die Hölle sind wir.
43:29Und wer ist Tucholsky?
43:31Er war unser Meister.
43:33Ich bin sicher, er wird sich offenbaren.
43:35Es ist eine Sache der Ehre,
43:37hat er.
43:39Fehlt noch Heine.
43:41Heine ist tot.
43:43Er war Heinrich Tietze und starb in den Flammen
43:45am 22. November 1963
43:47vor unseren Augen.
43:49Erzählen Sie mir, was damals geschah.
43:51Wir saßen alle in seinem Zimmer
43:53und Heine las uns aus seinem Romanentwurf vor.
43:55Mit dem Titel Rotenburg.
43:57Wir diskutierten wild.
43:59Besonders Tucholsky.
44:01Er war ausser sich.
44:03Er schrie, billiger Schlüsselroman,
44:05Fäkalie, sagte er das?
44:07Ja, das sagte er.
44:09Er lief im Zimmer herum und schrie immer wieder,
44:11du wirst uns alle verraten, du wirst uns als Messer liefern.
44:13Dabei hast du geschworen.
44:15Und was sagte Heine?
44:17Er sagte ganz einfach, aber ich kann nicht anlassen.
44:19Es geht nicht mehr. Schluss, Schluss, Schluss.
44:21Sagte er das so?
44:23Genau so sagte er das.
44:25Schluss.
44:27Ich sagte, aber du wirst uns alle ins Gefängnis bringen.
44:29Ist dir das klar?
44:31Und dich selber auch?
44:33Ich glaube ja nicht, dass du dich raushalten kannst.
44:35Ja, ich habe ihm auch Druck gemacht.
44:37Ich hatte solche Angst, dass wir auffliegen könnten.
44:39Heine ließ sich davon nicht beeindrucken.
44:41Tut mir leid, ich kann nicht anders, sagte er.
44:43Ihr könnt ja auch nicht anders, angeblich.
44:45Tucholsky war weiß im Gesicht geworden
44:47und sagte, aber es ist kein Zwang,
44:49es ist das Platonische im Geiste.
44:51Heine äffte ihn nach, das Platonische im Geiste.
44:53Tucholsky schrie, Frevel, das ist Frevel,
44:55weißt du das?
44:57Und alles wegen diesem holden Mägdelein
44:59mit dem Namen einer Küchenhilfe.
45:01Unser Müller.
45:03Er kannte sie erst seit ein paar Wochen.
45:05Sie besuchte ihn auch in seinem Zimmer.
45:07Er las ihr wohl auch vor aus seinem Roman.
45:09Und er erzählte ihr von unserem Kreis,
45:11da sind wir sicher.
45:13Später nach der ganzen Sache
45:15ging sie zum Studium ins Ausland.
45:17Anscheinend ist sie heute Professorin irgendwo.
45:19Und schreibt ihnen Briefe?
45:21Sie schrieb allen Briefe,
45:23außer an Tucholsky.
45:25Ich glaube, sie wollte uns zwingen,
45:27unseren Meister zu verraten.
45:29Ich weiß, es klingt lächerlich.
45:31Was schreibt Ihnen Rosa Müller?
45:35Sie schreibt uns immer im November.
45:37Novemberbriefe?
45:39Ja. Sie kündigt uns an,
45:41dass sie wieder eine Scheune anstecken wird
45:43am 22. November.
45:45Und das werde sie so lange tun,
45:47bis wir uns...
45:49Hauten?
45:51Nein, das ist ja heute kein Problem mehr.
45:53Früher schon.
45:55Da ging man dafür ins Gefängnis.
45:57Gott sei Dank ist die Zeit darüber hinweggegangen.
46:01Und worüber ist die Zeit nicht hinweggegangen?
46:03Warum sind Sie hier?
46:05Um uns zu stellen.
46:07Als Mörder.
46:09Jedenfalls, was mich betrifft.
46:11Mich ebenfalls. Mich genauso.
46:13Und mich auch, obwohl...
46:15Nein, mich genauso.
46:17Nein, die Zeit teilt nicht.
46:19Mord verjährt nicht.
46:21Auch nicht im Herzen.
46:23Erzählen Sie weiter, was an dem Abend passierte.
46:25Hesse ging ans Fenster und öffnete es.
46:27Das Zimmer war voller Zigarettennebel.
46:29Wir rauchten alle wie verrückt.
46:31Und da sah er
46:33die Menschen, die da unten vorbeizogen
46:35und schnappte auf, dass Kennedy ermordet sei.
46:37Und dann gingen wir auch runter.
46:39Wir alle, auch Heine.
46:41Wir schlossen uns dem Zug an
46:43und als er sich verlief,
46:45sagte Tucholsky, wir gehen nicht nach Hause.
46:47Nicht heute, wo so viel passiert ist.
46:49Wir gehen da auf die Wiese und zünden ein Feuer an.
46:51Los, sammelt Holz.
46:53Und dann?
46:55Dann schichteten wir Holz auf.
46:57Alle beteiligten sich, auch Heine.
46:59Es wurde ein Riesenscheiterhaufen.
47:01Heine rief, ja, zünden wir ihn an
47:03als Fanal der Freiheit an diesen Tagen.
47:05Jeder hat die Freiheit, seinen Weg zu gehen.
47:07Ich meinen und ihr euren.
47:09Es lebe die Freiheit und der platonische Geist.
47:11Das kam nicht gut an.
47:13Besonders nicht bei Tucholsky.
47:15Er hatte ja am meisten zu verlieren.
47:17Er war ja schon volljährig
47:19und vorbestraft nach Paragraf 175.
47:21Er rief, du willst uns alle verraten
47:23und schwörst auf die Freiheit
47:25und den platonischen Geist?
47:27Weißt du, was du verdient hast?
47:29Tucholsky schlug ihm mit voller Wucht
47:31die Faust gegen den Kopf.
47:33Und dann muss so etwas wie Panik
47:35unter uns anderen ausgebrochen sein.
47:37Wir hatten ja alle nur Angst
47:39und dann schlugen wir alle auf Heine ein.
47:41So lange, bis er zusammensagte.
47:43Und dann kam das Unbegreifliche.
47:45Tucholsky schleppte den Bewusstlosen
47:47auf den Scheiterhaufen
47:49und zündete ihn an.
47:51Und keiner von uns tat etwas.
47:53Tucholsky sagte nur,
47:55denkt an unseren Schwur.
47:57Er gilt bis an das Ende
47:59unseres Lebens.
48:01Natürlich klingt das alles von gestern
48:03und aus heutiger Sicht
48:05nicht zu verstehen.
48:07Aber wir waren ein Kreis.
48:09Und dann noch das Verbotene,
48:11das absolut Verbotene,
48:13das geheime Deutschland,
48:15so sahen wir es.
48:17Wir waren homophil,
48:19mehr oder weniger offen.
48:21Dass ich damals warmer Bruder
48:23vom anderen Ufer war,
48:25einfach homo,
48:27was einen anderen Klang hat als heute.
48:29Wie hätten wir das
48:31unseren Eltern erklären sollen
48:33in dieser Zeit 1963?
48:35Abgesehen davon, dass wir vielleicht
48:37alle ins Gefängnis gekommen wären.
48:39Die klebrige Zeit.
48:41Ja, so nannte er es in seinem Roman.
48:43Sie wissen natürlich,
48:45dass ich Schritte gegen Sie einleiten muss.
48:47Ich nehme Sie heute hiermit vorläufig fest.
48:49Mord, auch Beihilfe zum Mord,
48:51verjährt nicht,
48:53auch nicht nach 50 Jahren.
48:55Verfügen Sie über uns, wir sind bereit.
48:57Noch was.
48:59Der Junge soll einen Abschiedsbrief geschrieben haben.
49:01Der Abschiedsbrief.
49:03Ich kann nicht mehr leben im Land der Täter.
49:05Werft mich in alle vier Wände.
49:07Tucholsky hat ihn geschrieben,
49:09am gleichen Abend noch.
49:11Auf der Maschine des Jungen.
49:13Im Land der Täter.
49:15Da begriff ich das Perfide,
49:17das absolut Perfide.
49:19Jemand, der sich Tucholsky nannte,
49:21hatte sich der Geschichte bedient,
49:23der Nazi-Geschichte und der Familiengeschichte des Jungen.
49:25Danach hat er das Zimmer aufgeräumt
49:27und auch das Manuskript des Romanentwurfs vernichtet.
49:29Am Kohlepapier,
49:31im Papierkorb, entdeckte er allerdings,
49:33dass eine Kopie existieren musste.
49:35Und seitdem...
49:37Kriegen Sie Post von Rosa Müller.
49:39Novemberpost.
49:41Sie kommt, um zu lesen. Rotenburg.
49:43Und sie zündet Scheunen an.
49:45Ja. Die Jahre waren die Hölle.
49:47Und nicht die anderen
49:49sind die Hölle.
49:51Ja, das sagten Sie bereits.
49:53Wollen Sie mir nicht doch sagen, wo ich Tucholsky finde?
49:55Er wartet auf Sie.
49:57Im grünen Zimmer.
50:03Als ich die Treppe hochstieg,
50:05öffnete sich die Tür von Frau Lippmann,
50:07der etwas sonderlichen Nachbarin.
50:09Kleist?
50:11Nein, Nebe.
50:13Dann habe ich mich geirrt.
50:15Sie flüsterten damals nur im Flur.
50:17Und Sie haben ihre Namen gehört?
50:19Schließlich konnte ich sie ganz gut unterscheiden.
50:21Die meisten waren ja
50:23meine Schüler in Latein.
50:25Aha.
50:27Vorhin ist jemand die Treppe hochgegangen.
50:29Ich habe nur die Schritte gehört.
50:31Heimliche Schritte.
50:33Ist es wieder die Frau?
50:35Die Frau?
50:37Die Frau, die immer im November kommt.
50:39Nein, die war schon da in diesem Jahr.
50:41Ich werde oben nachsehen.
50:43Bleiben Sie bitte in Ihrer Wohnung.
50:49Ich klopfte an der Tür.
50:51Als niemand antwortete, öffnete ich sie.
50:53Am Schreibtisch saß aufrecht
50:55Herr Zacharias,
50:57aber ich sah sofort, dass er tot war.
50:59Auf dem Tisch stand ein braunes Glas,
51:01beschriftet mit dem Namen Veronal.
51:03Denkbar, dass es ihm
51:05der Apotheker irgendwie beschafft hatte.
51:07Es war das Mittel, mit dem sich
51:09der richtige Tucholsky umgebracht hatte,
51:111935.
51:13Stilecht, Herr Zacharias.
51:15In der Schreibmaschine
51:17steckte ein Blatt, darauf stand nur ein Satz.
51:19Je m'accuse.
51:21Ich klage mich an.
51:23Zwar nicht Tucholsky,
51:25aber auch irgendwie stilecht.
51:35Morgen, Herr Nebe.
51:37Danke für die große Rückblende.
51:39In Ihrem Zimmer sitzt Herr Schmoll
51:41und ist stinksauer,
51:43dass Sie ihn nicht daran teilnehmen ließen,
51:45am letzten Akt.
51:47Tun Sie was fürs gute Wetter.
51:49Und ich hoffe,
51:51dass Sie uns erhalten bleiben,
51:53Sie beide.
51:55Ja, das hoffe ich auch, trotz alledem.
51:57Irgendwie kann man ja mit Schmoll leben,
51:59wenn man sich ein bisschen auf ihn einstellt.
52:01Ich werde wieder umziehen.
52:03Mal sehen,
52:05was Melinda dieses Mal so empfiehlt.
52:07Die vier Herren vom Leseverein
52:09wurden tatsächlich angeklagt,
52:11erhielten aber Bewährungsstrafen
52:13angesichts ihres damaligen jugendlichen Alters.
52:15Tja, so ist das.
52:17Mal gespannt,
52:19ob Rosa Müller im nächsten November wieder auftaucht.
52:21Ich würde gerne ihre Geschichte erfahren.
52:33Das grüne Zimmer
52:35von Friedemann Schulz.
52:37Die Rollen und ihre Darsteller.
52:39Nebe, Sebastian Blomberg,
52:41Schmoll, Martin Engler,
52:43Panzer, Hanno Koffler,
52:45Cindy, Sandra Gerling,
52:47Linda, Postbotin,
52:49Barbara Philipp,
52:51Herr Zacharias, Michael Gempert,
52:53Frau Lippmann, Monika Dortschi,
52:55Herr Radtke, die Frau Schmoll,
52:57Frau Schmoll,
52:59Frau Schmoll,
53:01Frau Schmoll,
53:03Herr Radtke,
53:05Frau Schmoll,
53:07Er war der 6.
53:09Hannover活 Gipfelstein,
53:11Frau Lahmann,
53:13für die 4.
53:15Reaktionen.
53:17Frau Lippmann,
53:19Frau Schmoll,
53:21für die 2.
53:23Reaktionen.
53:25Funny Little Fantasy
53:27für die 3.
53:29Dramaturgie und Redaktion, Peter Liermann.
53:32Regie, Thomas Wolfertz.
53:34Produktion, Hessischer Rundfunk 2013 für den ARD-Radio-Tatort.