Märchen & Sagen - 2005 - Sterntaler und das Himmlische Gold - by ARTBLOOD

  • vor 10 Jahren
Als die Brüder Grimm das Märchen 1812 zum ersten Mal veröffentlichten, trug es noch den Titel "Das arme Mädchen". Die Verfasser griffen auf eine mündlich tradierte Geschichte zurück und verwiesen zudem auf Parallelen zu Jean Paul und Achim von Arnim. In den Anmerkungen zur Erstausgabe betonten die Grimms, ihre Märchen seien eigentlich für Wissenschaftler und interessierte Laien gedacht.

Doch das große Interesse der Kinder erfreue sie sehr. Bereits im Vorwort zur zweiten Auflage von 1819, die Wilhelm Grimm daraufhin kindgerechter gestaltet hatte, betonte der Autor die besondere Neigung der Jüngsten zu Märchen und definierte den neuen Band auch als "Erziehungsbuch". Die Erzählung vom armen Mädchen hieß nun "Die Sterntaler".

Das Mädchen, das Eltern und Heim verloren hat, steht als Prototyp für das hilfsbedürftige Kind. Nur ein Stück Brot und die Kleider, die es auf dem Leib trägt, sind ihm geblieben. In schlichten Worten, aber umso eindringlicher schildert der Text, wie das Kind aus Nächstenliebe und ohne zu zögern an andere Arme alles weggibt, was es noch besitzt: das Brot, das Mützchen, das Leibchen, das Röcklein und zuletzt auch noch sein Hemd.

"Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und waren lauter harte blanke Taler. Und obwohl es sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an, und das war vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag."

Mit dem "Sterntaler" präsentieren die Grimms ein religiöses Gleichnis. Wenn der Mensch bereit ist, auf irdische Güter zu verzichten, Barmherzigkeit zu zeigen und sich selbst zu entäußern, kommt der Lohn vom Himmel, sei es vor oder nach dem Tod. So lautet die Moral der Erzählung. Das Mädchen war "gut und fromm".

Die Betonung des Lieben und Braven gehört zum Biedermeier, der Epoche zwischen Romantik und Realismus, die auf den politischen Entwicklungen zwischen 1815 und 1848 gründet. Die allgemeine Sinnkrise nach der Wende zum 19. Jahrhundert basiert auf Ernüchterung und Hoffnungslosigkeit seit den Befreiungskriegen, auf politischer Unfreiheit und wirtschaftlichen Problemen, die jeden Aufschwung lähmten.

Als Gegenpol gewinnen Häuslichkeit sowie Geselligkeit in Familie und Freundeskreis an Bedeutung. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wandelte sich die Bedeutung des Biedermeier ins Positive - im Sinn von "guter alter Zeit".

Dass der Lohn für das barmherzige Kind vom Himmel kommt, beruht nicht auf Zufall. Seit alters her erfreuen sich Sterne und vor allem Sternschnuppen, die lautlos zur Erde fallen, großer Beliebtheit in populären Überlieferungen.

Schon die alten Griechen identifizierten die blinkenden Himmelkörper mit den Seelen Verstorbener. Doch die Bezeichnung "Sterntaler" für eine Münze mit materiellem Wert entstammt nicht der Phantasie der Brüder Grimm.

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